Einige Gedanken zu Briefbomben… und ihrem Unsinn

Wir übernehmen einige auf dem Blog andiewaisendesexistierenden.noblogs.org veröffentlichte Texte, welche sich kritisch mit der Verwendung von Briefbomben als Mittel zur Überwindung der momentanen Verhältnisse auseinandersetzen. Wir begrüßen es, dass diese Debatte weitergeführt wird und nicht darüber geschwiegen wird.

Einige Gedanken zu Briefbomben… und ihrem Unsinn

Am Morgen des Dienstagmorgen [29.April] ist in Olten (Schweiz) bei Swissnuclear eine Briefbombe hochgegangen, die zwei Angestellte leicht an den Händen verletzte. Laut Bullen und Medien lag ein langes Bekennerschreiben der FAI [federazione anarchica informale] bei, das jedoch bisher nicht veröffentlicht wurde. Der Anschlag fand in einer Reihe anderer, von der FAI bekennter Anschläge statt, in Livourne (Italien) auf einen Polizeiposten [verletzte Hände eines Polizeioffiziers] und Korydallos (Athen) an den Direktor des Gefängnisses [vereitelt].


[Ein kurzer übersetzter Auszug aus dem Artikel
„14 Punkte über den Aufstand“,
in A Corps Perdu, nr. 3, internationale anarchistische Zeitschrift]

„[…] Kommen wir auf den Punkt. Das Senden von Briefbomben (die noch dazu schon mehrfach unbeteiligte Personen verletzt haben), die zugespitzten allgemeinen Drohungen, die Ausdrücke von Nihilismus und die Selbstdefinierungen als “Terroristen“1 haben nichts mit den aufständischen Projekten zu tun. Man muss kein sehr heller Kopf sein, um zu begreifen, dass sich hinter diesem Neo-Rebellentum nicht viel anderes als ideologische und politische Selbstbehauptung verbirgt. Für lange Zeit, in bestimmten Kontexten für unzählige Jahre, wurden diese Akte und diese Ideologien nicht ausreichend kritisiert. Und dies, wie wir weiter unten im Text sehen werden, nicht weil die Argumente fehlten2, sondern viel eher, um – wie man damals sagte – ‘den Kreis der Repression nicht zu schliessen’. Der Mangel an Kritiken und ihre Unzulänglichkeit haben in vielen Ländern dennoch zum Wiederaufkommen einer Methode und einer Denkensweise geführt, die zumindest diskutiert werden sollten. Wenn es sicherlich wahr ist, dass es keinem von uns Freude bereitet, sich distanzieren zu müssen, so ist es ebenso wahr, dass es zahlreiche Revolutionäre, und ich als erster, aus einem ethischen sowie aus einem projektuellen Blickwinkel bedenklich finden, mit bestimmten Praktiken verbunden zu werden, ohne sagen zu können, was man darüber denkt.
Das Delegieren der Auslieferung einer Briefbombe an irgendjemand, ohne dass diese Person davon Bescheid weiss, mit dem Risiko, dass sie ihr in den Händen explodiert, ist ein Akt, der mit dem anarchistischen Prinzip der Nicht-Delegation und der individuellen Verantwortung ziemlich wenig zu tun hat. Den Irrtum zu verteidigen und auf ihm zu beharren, nachdem in wiederholten Fällen nicht ausgesuchte Personen verwundet worden sind, bedeutet von der Ideologie der Konfrontation verblendet zu sein; eine Bombe an einem Durchgangsort zu platzieren, mit oder ohne Vorwarnung an die Polizei, ist eine Aktion, die eine terrorisierende Zielsetzung in sich trägt (oder die auf jeden Fall so aufgefasst werden wird): “heute warnen wir euch noch”, oder “heute handeln wir bei Nacht, morgen wer weiss…”3. Zugegeben, dies sind keine Neuheiten, und es wäre falsch, zu behaupten, dass die revolutionäre Bewegung nie vor solchen Problemen gestanden hätte. Die Geschichte ist gewiss übervoll mit Scheusslichkeiten, meistens von und für die Macht ausgeführt, andere aber, unglücklicherweise, traten auch bei Angriffen hervor, die gegen sie gerichtet waren. Doch kein Zweck, so nobel er auch sein mag, kann “die Mittel“ rechtfertigen. So ziehe ich es vor, der Geschichte ins Gesicht blickend und das revolutionäre Erbe „auf mich nehmend“, mich daran zu erinnern, dass es die Anarchisten vorgezogen haben, ihr Leben zu opfern, als jemanden zu treffen, der nichts damit zu tun hatte, und dass einige unter ihnen mit “Liebe” gegen die Unterdrücker vorgingen; mich auch daran zu erinnern, dass die abscheuliche Verachtung für “das Volk“ dem Feind vorbehalten war: der Bourgeoisie und der Aristokratie.

[…]

Ich weiss, dass es unangenehm, und manche würden sagen, deplatziert ist, diese Kritiken zu einem Zeitpunkt aufzubringen, in dem sich die Repression spüren lässt. Aber andererseits, wann lässt sich die Repression nicht spüren? In Anbetracht dessen, wie sich die Dinge entwickeln, glaube ich nicht, dass es jemals einen “neutralen” Moment geben wird, um innezuhalten und zu diskutieren, oder um die Kritik in Umlauf zu bringen. Dennoch ist es gerade die Kritik, die die Debatte nährt und, entschuldigt die Banalität der Wiederholung, die die Verfeinerung und Effizienz der revolutionären Theorien und Praktiken erlaubt. Denn nichts ist unveränderlich und die revolutionäre Perspektive ist dynamisch, zumindest wenn man sie nicht wie eine Religion eintrichtern will.
Auf die im vorangegangenen Teil aufgeworfenen Themen hat es je nach Land sehr unterschiedliche Reaktionen gegeben. Wenn die Debatten über den Gebrauch bestimmter Methoden des Angriffs beispielsweise in der anarchistischen Bewegung Spaniens mehr oder weniger breit ausgetragen wurden, so war sie in der anarchistischen Bewegung Italiens praktisch nicht existent. Der Grund für diese Stille ist sicherlich nicht ein Mangel an Argumenten oder der Unwille zu polemisieren, sondern ist vielmehr ausschließlich repressiven Faktoren verschuldet. Das Problem war und ist, zu vermeiden, einen Teil der anarchistischen Bewegung zu isolieren, indem eine kritische Debatte ausgelöst wird, die einerseits sicherlich zu einer methodologischen und theoretischen Überwindung führen kann, andererseits aber unausweichlich das Risiko einer kritischen Spirale – gegen eine bestimmte Art von Aktion – mit sich bringt, die von der Repression wie eine „Distanzierung“ verstanden werden würde. Selbstverständlich, um gänzlich klar zu sein, ist das Problem nicht, Distanz von dem zu nehmen, was man nicht teilt, sondern zu riskieren, dass der polizeiliche Druck über jene ausgeübt wird, die sich entscheiden – aus Gründen verschiedenster Art –, diese Distanz nicht zu nehmen. Bei genauerer Betrachtung ist es schwierig, zwischen beispielsweise der spanischen und italienischen Umgangsweise zu sagen, wer recht hatte, oder welche der beiden Positionen – in einem Kreis, aus dem man schwerlich ”sauber” heraustreten kann –, die geringsten Einschränkungen mit sich bringt.“


[Auszug aus dem Text “Kritische Notizen zum Kampf gegen das FIES”
(das FIES ist ein Isolationshaftregime in Spanien),
bezüglich der in diesem Zusammenhang verschickten Briefbomben.
Publiziert in “A Corps Perdu, nr. 2”]

„[…] Diese «Angriffe» existierten nur durch das mediale Tamtam, das sie verursachten, was sie jedoch nicht daran hindern wird, in der Einbildung einiger auf die höchste Sprosse der Radikalitäts-Leiter gehoben zu werden. Diese sehr eigentümliche Methode brachte mindestens zwei schädliche Effekte mit sich: Auf der einen Seite stellte sie das gesamte Spektrum der Angriffe und direkten Aktionen in den Schatten, die zu der Zeit stattfanden, auf der anderen Seite erlaubte es den Henkern, sich als Opfer darzustellen. Abgesehen davon, dass sie sich in eine Gegenmacht-Logik hineinbegeben, verbreiteten die Briefbomben eine unwirkliche Bedrohung, und dies wussten die Mächtigen nur all zu gut. Der Staat erkannte dennoch das revolutionäre Potenzial, das – obwohl noch im embryonalen Zustand – im Raum des Kampfes [des gesamten sozialen Kampfes gegen das FIES, die Gefängnisse und die Welt, die sie nötig hat – Anmerkung der Zitierenden] bereits enthalten war. Die Repression, die folgte, und die Massnahmen, die beabsichtigten, dessen Verbreitung zu hemmen, waren hauptsächlich präventiver Natur.”


[Ein Auszug aus „Über die individuelle Verantwortlichkeit“,
in A Corps Perdu, nr.1]

„Klar und deutlich ausgedrückt: Noch nie war es so notwendig wie jetzt, anzugreifen. Aber anzugreifen bedeutet, die Verantwortung für das, was man tut, als Individuum auf sich zu nehmen [Was das Delegieren der Verantwortung an einen unwissenden Pöstler, der eine Bombe überbringt ausschliesst (um es zu wiederholen) – Anmerkung der Zitierenden]. Es bedeutet, die unseren Verantwortungen und jene des Gegners zu erkennen [Was Methoden ausschliesst, mit denen es nicht möglich ist, eine vorher gut abgewogene Verantwortung, und ausschließlich diese, anzugreifen, da es mehr oder weniger zufällig ist, wer beispielsweise eine entsendete Briefbombe öffnet (um auch das noch einmal zu wiederholen) – Anmerkung der Zitierenden]. […]
Wir, als Individuen, wir kämpfen für die Bekräftigung des Individuums und gegen Individuen: Es sind nicht «Uniformen», sondern Menschen, auf die man schiesst, es ist nicht die Bourgeoisie, es sind Menschen, die man schlägt, es sind nicht Ideologien, sondern Menschen, die man angreift. Wenn wir wollen, dass der Mensch frei ist, müssen wir die Menschlichkeit und die Einzigartigkeit selbst in den schlimmsten Feinden erkennen. Totalitäre Prozesse gründeten seit jeher auf der Entmenschlichung des Gegners. Mittlerweile sollte es doch offensichtlich sein – alleine schon, wenn wir die jüngste Vergangenheit in Erinnerung behalten und die tragische Gegenwart betrachten –, dass wir den entgegengesetzten Weg versuchen müssen.
[…]
Es ist absolut inakzeptabel, dass ein einziges Leben im Namen der Aktion oder der Sache geopfert wird. Die Sache – wenn es um jene für die Freiheit geht – verliert jeglichen Wert, wenn darin nicht eine Abstufung der Verantwortung wahrgenommen wird, wenn ihre Handlung das militaristische Prinzip in sich trägt, jenes das blind in die Menge schlägt.
Und mit “blind in die Menge schlagen“, um es noch deutlicher auszudrücken, meinen wir nicht nur zahlreiche Personen zu töten oder zu verletzen. Es bedeutet vor allem, Berechnungen über die Anzahl Opfer anzustellen, die man in solche, die für ihre wirkliche Verantwortlichkeit getroffen werden, und solche, die durch «Kollateralschaden» getroffen werden unterteilt. Es bedeutet, das Leben der Individuen im Namen der Politik zu vergessen.“

  1. Drohungen und Äusserungen, wie sie z.B. von gewissen, offensichtlich unter gewissen Anarchisten so viel Aufmerksamkeit auf sich ziehenden “bewaffneten Organisationen“ in Griechenland geäussert wurden. Gruppen, die in erster Linie die Vielfalt der sozialen Konfliktualität in Griechenland auf die bewaffnete Konfrontation reduzieren, und die den sich dort breit äussernden sozialen Krieg auf eine spektakuläre Ebene tragen, auf der er in einen privaten Krieg, einen tristen Zweikampf zwischen “bewaffneten Stadtguerillas“ und dem Staat verwandelt wird. []
  2. In dem 2003 erschienenen Text „Einige alte, aber aktuelle Fragen unter Anarchisten und nicht nur“ wird nach langer Zeit erstmals eine anarchistische Kritik an diesen Methoden deutlich formuliert (also nicht seitens der “anarchistischen Föderation“ oder der Syndikalisten, die sich meistens sowieso aus Prinzip und aus demokratisch-linker Mentalität von direkten Aktionen distanzieren). []
  3. siehe Fussnote 1 []

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