Tränengas & Twitter – Eine anarchistische Analyse aus dem Gezi Park, Istanbul

Proteste in Istanbulübernommen von lesci.blogsport.eu

im Folgenden eine Schnellübersetzung des Textes „Tear Gas & Twitter in Taksim – An anarchist eyewitness analysis from Gezi Park, Istanbul“, zuerst veröffentlicht auf anarkismo.net und zur Zeit der Gezi Park Räumung, am Wochenende um den 16. Juni, geschrieben. Die Übersetzung setzt erst beim analytischen Teil des Artikels ein (die Erlebnisse im ersten Teil wurden an dieser Stelle weggelassen).

Erdogan is no Hitler

Erdogan ist, bei einem großen Teil der Bevölkerung, berechtigterweise beliebt. Er brachte Wohlfahrtsprogramme auf den Weg, welche eine reale Lebensverbesserung für die ärmsten Schichten in der türkischen Gesellschaft bedeuteten. Im Gegensatz zum restlichen Europa wächst die türkische Wirtschaft sehr schnell, teilweise durch einen Entwicklungs- und Investitionsboom angetrieben, wovon das Gezi Park Projekt eben nur ein Teil ist. Wie durch den Neoliberalismus anderswo auch, ging ein Großteil der Profite dieser Entwicklung natürlich an die herrschende Klasse. Aber der plötzliche Einbruch im Lebensstandart des Proletariats, welcher überall in Europa mit dem Einbruch der Krise begann und seinen Ausdruck in der Occupy und M15 Bewegung fand, spiegelte sich so nicht in der Türkei wieder.

Es ist nur wenig oppositioneller Spielraum gegeben, aber bevor Erdogan an die Macht kam, gab es auch nicht wesentlich mehr. Der wichtige Unterschied war, dass er neue, religiös motivierte Moralgesetze erließ, z.B. eine zeitliche Beschränkung für Alkoholverkauf. In einer Gesellschaft, welche sich an der Frage religiös vs. säkular spaltet, spricht Erdogan für einen großen Teil der Bevölkerung. Er hat dies populistisch eingesetzt, als er fälschlicherweise behauptete, Demonstranten hätten drei Tage lang eine Party mit Alkohol in einer Moschee gefeiert – der Imam dieser Moschee wurde entlassen, als er diese Lüge öffentlich entlarvte. Eine Meinungsumfrage während der Proteste hatte zum Ergebnis, dass er 53% Rückhalt genießt, die höchste Zustimmungrate, die ein Europäischer Politiker in den letzten Jahren für sich verbuchen konnte. Dieselbe Umfrage ermittelte, dass die Gesellschaft bezüglich der Proteste je zur Hälfte in ein pro und contra Lager gespalten war.

Die „Human Rights Foundation Of Turkey“ ermittelt ca. 640.000 Demonstranten in den Anti-Regierungsdemonstrationen am 5.Juli. Wenn die Teilnehmer der Versammlungen, in den Erdogan sprach, zusammengezählt werden, dann bringen beide Seiten in etwa die gleiche Anzahl an Leuten auf die Straße. Obwohl erwähnt werden muss, dass eine davon freien Transport bekam und die andere freies Gas. Aber nochmals, hier geht es um eine in der Mitte zerrissene Gesellschaft, welche nicht durch Klassengegensätze polarisiert ist, sondern durch die Gegensätze Stadt-Land, Religon-Säkular und Alt-Jung.

Das bedeutet, Gezi Park hat mehr Ähnlichkeit mit Occupy und M31, als mit dem Tahrir und dem Kampf für Demokratie in Ägypten. Der Kampf in der Türkei dreht sich nicht um parlamentarische Demokratie – diese existiert bereits, während ihre dunklen Flecken auch nicht viel größer sind, als die in Europa oder Nordamerika. Der Unterschied wird in der Analyse der Verteidigung des Platzes deutlich: auf dem Tahrir wurden Steine und Katapulte in riesigen Mengen zum Schutz der Besetzung verwendet, gegen eine Polizei, welche in sehr ähnliche Taktiken wie in Istanbul einsetzte. Hunderte starben in den folgenden Auseinandersetzungen, aber sie hielten den Platz.

In Istanbul war die Verteidigung oft eine passive, Barrikaden wurden gebaut aber selten verteidigt, Steine wurden nur vereinzelt und von wenigen geworfen. Die Menge schloss sich in Seitenstraßen zusammen, bauten vielleicht noch eine Barrikade bevor sie mit Gas angegriffen wurde, sich zerstreute und sich erst wieder formierte, wenn die Polizei verschwand, um an andere Stelle den Protest anzugreifen – ein Prozess, welcher in diesem Zeitraffervideo aus Istanbul sehr anschaulich dargestellt ist. Aktive Verteidigung der Barrikaden war mehr symbolisch, im Gegensatz zum Tharir-Frühling, wo der Himmel über der Polizei oft schwarz vor lauter fliegenden Steinen war. Devrimci Anarşist Faaliyet veröffentlichten einen sehr anschaulichen Eindruck über die Barrikadenkämpfe. Es gab einige Beispiele von fliegenden Molotows, aber die bestdokumentierteste Situation war, als Zivilpolizei in der Menge den Einsatz von Riotcops um den Gezi Park später an diesem Tag provozierten sollten.

Das Konftontationsniveau von Seiten der Park Besetzter ging nicht über die Bildung von Menschenketten zur Verhinderung von Auseinandersetzungen mit der Polizei hinaus – Das ganze wurde als Massnahme zum Schutz vor Provokateuren ausgegeben. Einige nordamerikanische Inusurrektionisten denunzierten dies online, doch sie konnten den deutlich andern Kontext der Bewegung in Istanbul, verglichen mit z.B. Oakland, nicht verstehen. Die taktische Frage hinsichtlich des Einsatzes von Gewalt in Protesten ist eine komplexe, der an dieser Stelle nicht in aller Ausführlichkeit nachgegangen werden soll. Nur soviel: Ich bin sicherlich kein Pazifist und denke, dass sich in vielen Situationen Pazifismus eher als kontraproduktiv erweist.

Während in Oakland fliegende Steine und klirrende Scheiben als PR Problem eingestuft wurden (von denjenigen, die dagegen waren), gab es in Istanbul dir Befürchtung, dass solche Aktionen zu deutlich härteren Polizeieinsätzen und eventuell zu einer Militärintervention führen könnten. Der Europaminister sprach die Warnung aus:“Von jetzt an wird der Staat alle, die im Gezi Park bleiben, als Unterstützer oder Mitglieder einer Terrororganisation betrachten“. Erdogan hat die Besetzter in den Medien ebenfalls als Terroristen bezeichnet. In einer Situation, in der viele befürchteten, dass scharf geschossen wird, sobald ein Anlass besteht, beschlossen sie, sich auf Taktiken zu beschränken, welchen die Repression „nur“ mit Wasserwerfer oder Tränengas begegnet. Der Hintergrund dafür ist die die Unterdrückung der türkischen Linken in den 70er und 80er, ähnlich der in Südamerika zur gleichen Zeit, mit ihrer Brutalität, der Folter und dem verschwindenlassen. Wenn die Selbstbeschränkung auf gewisse Taktiken Teilen der Gezi Park Besetzer vorgeworfen wird, sollte erst einmal die Situation vor Ort genau berücksichtigt werden, welche sich von der Lebensrealität dieser „Kritikern“ doch deutlich unterscheidet.

Tweeting the cycles of squares

Gezi Park ist der Beginn der 4. Runde im Kampf um die Plätze. Wir Können Kairo als einen Startpunkt begreifen, weitergetragen in der weltweiten Occupybewegung, bis hin zu M15 in Spanien. Diese Kämpfe haben ihre eigenen Merkmale aber auch deutliche Gemeinsamkeiten wie einen ähnlichen „Geist“, ähnliche Methoden und Erscheinungsbild, und nicht zuletzt das #, welches auf jedem Schriftstück, Poster oder Transparent auftaucht. Alle sind Teil eines gemeinsamen Lernprozesses in dem wir uns genau beobachten, von einander lernen und natürlich besuchen und mitmachen. Eine der ersten schweren Verletzungen in Istanbul, traf einen Besucher aus Kairo. Wenn ich in Gezi war, traf ich Leute auf Europa, Nordamerika und von weiter weg – eine winzige Minderheit in der gesamten Menge, aber Menschen, die sich als Teil einer weltweiten Suchbewegung sehen. Schließlich waren wir zu fünft aus Irland am einen oder anderen Ort, sicherlich waren da noch mehr Iren, und ich traf Menschen, mit denen ich zuletzt vor 2 Jahrzehnten in der Zapatista-Solidarität zusammen gearbeitet hatte.

Ich verbrachte viel Zeit mit einem Militanten der DAF (Revolutionary Anarchist Action) um über die Einordnung der Kämpfe in die Türkische und Globale Politik zu sprechen. Als wir Internetseiten und eMail Adressen austauschten und ich die Website von DAF, der auffälligsten Gruppe am Platz checkte, sah ich, dass sie nicht nur eine sehr detaillierte Analyse von Tahrir und Occupy online hatten, sie hatten sie auch ins englische übersetzt. Nun, für einige Tage im Juni, war der Gezi Park Bezugspunkt einer globalen Bewegung, und jeder mit dem ich sprach war sich dessen Bewusst.

Einen Teil des Hintergrundrauschens dieser Periode bildet der (oftmals kontraproduktive) Umgang traditioneller linker Organisationen mit den Neuen Bewegungen. Das schließt den Aufruf mit ein, diese Bewegungen sollten die alten Organisationsformen und Terminologien übernehmen, obwohl es gerade die neuen Formen und Ausdrücke sind, welche diese Bewegungen zu solchen machten. Zentrales Element ist hier die Transformation von Methoden der Organisierung hin zu solchen, welche durch das Internet möglich wurden – Eine Transformation, welche immer mehr Organisationsbereiche der traditionellen Linken verdrängt. Ein Spaziergang durch Gezi, war ein Spaziergang durch eine Welt von Hashtags. Auf jedem freien Plätzchen, auf jedem Plakat oder Transparent, sogar die Zelte waren mit Hashtags versehen. In Istanbul konntest du ziemlich genau sagen, wenn die Repression (auf den Straßen) sich nähert, weil plötzlich eine menge Leute auf ihr Smartfon starrten.

Ich hatte keine Data Roaming Service in Istanbul. Also hatte eine Freundin in Irland twitter für mich im Blick und schickte mir SMS-Warnungen, wenn sich etwas zusammenbraute. Schließlich kam ich zu dem Schluss, dass twitter-Networking (meiner frischen Erfahrungen) von meinem Hotel aus nützlicher sein kann, als durch durch die Straßen zu rennen. Mit der Revolte in Istanbul sollte die Debatte über den Sinn und Zweck Sozialer Medien für eine Reallife-Organisierung endlich beendet sein – sie ergibt einfach keinen Sinn mehr. Wenn Erdogan erklärt: „Soziale Medien sind die schlimmste Gefahr für die Gesellschaft“ oder „Es gibt jetzt eine Gefahr namens twitter“ drückt er nur die Überraschung eines Führers aus, welcher realisiert, dass seine Macht über Medien und Informationen im schwinden ist.

Class

Im Gegensatz Occupy zeichnete sich Gezi Park duch die fast vollständige Abwesenheit der schrägen 99% vs. 1% Analyse aus. Während ich überall #OccupyGezi auf zahllosen Plakaten oder Transparenten sah, nahm ich das 99% Gerede kaum wahr. Durch die Popularität, welche Erdogan bei den ländlichen Armen genießt, war ein Klassenstandpunkt, welcher sich auf den Stadt – Land Unterschied bezieht, bei Gezi nicht vorhanden. Die Forderungen der Taksimplattform gingen nicht über Umweltschutz, Korruption und Polizeigewalt hinaus. Auch in der Bewegung spielten Klasse oder Ökonomie keine Rolle. Auf Wikipedia wurde der Bewegungshorizont reduziert auf „Pressefreiheit, Meinungsfreiheit, Versammlungsfreiheit und der Rücknahme des türkischen Säkularismus durch die Regierung“. Ein anderer Grund für das Fehlen einer Klassenperpektive von Gezi war, dass erstaunliche 48% der 137 CEOs in der Türkei behaupteten, den Gezi Park während der Proteste besucht zu haben. 90% von ihnen erklärten die Proteste für gerechtfertigt.

Das Fehlen eines Klassenstandpunktes war umso erstaunlicher, da die Linke und Gewerkschaften viel stärker im Mittelpunkt der Geziproteste standen, als in jedem anderen Occupy Camp. Die radikaleren Gewerkschaften riefen „Genalstreiks“ gegen die Repression aus, allerdings ist der Organisierungsgrad der Arbeiterklasse in der Türkei sehr gering und radikale Gewerkschaften repräsentieren höchstens ca. 2% der Arbeiter. Unter „Sleepless in Istanbul“ gibt es auf LibCom eine ganz gute Analyse über die reale Militanz der türkischen Gewerkschaften.

Sobald du auf dem Taksim ankommst siehst du die Transparente der türkischen und kurdischen Linken. Ein Freund aus der Türkei stellte die Möglichkeit in den Raum, dass die Größe der Transparente sich in einem umgekehrten Verhältnis zur realen Größe und Einfluss der Gruppen verhalten könnte. Umfragen haben ergeben, dass die starke Präsenz dieser (Organisations-) Banner nicht zu einer Identifikation der Massen mit diesen Organisationen führt.

Eine Umfrage der Bilgi Universität ergab, dass die absolute Mehrheit der Protestierenden keine Verbindung zu irgendeiner politischen Partei hat. Der Hauptgrund, an den Protesten Teilzunehmen war ein Anti-Autoritärer. Mehr als 90% nannten verschiedene Aspekte autoritärer Politik, unter denen sie zu leiden hätten. Fast 82% bezeichneten sich als Liberal (mehr in der europäischen als in der amerikanischen Bedeutung) und 75% sind eindeutig nicht konservativ. 92% haben nicht die herrschende AKP gewählt.

Inside Gezi Park

Der Ausgangspunkt der Bewegung war die Abholzung der Parks im Rahmen eines Bauprojektes. Das Projekt befindet sich größtenteils unter der Erde, wodurch größere Teile des Platzes teilweise in Mitleidenschaft gezogen werden. Besonders auf der westlichen Seite, wo der Park einige Meter über dem Platz liegt. Die Gebäude in diesem Bereich sanken auf das Niveau vom Platz ab und wurden dadurch teilweise zerstört. Zwischen Gerüsten, Bauabsperrungen und -Schutt fand sich eine Menge Barrikadenmaterial.

Der Park liegt an allen vier Seiten über dem Straßenniveau, an zweien sogar beträchtlich darüber. Er hatte also auch schon vor dem Barrikadenbau eine gut zu verteidigende Lage. Als ich den Park besuchte, war jede Grünfläche darin mit Zelten bebaut. Hunderte davon bildeten einen eigenen Bau mit, durch an Bäumen befestigten Transparenten markierten Straßen und Wegen. Verschiedenste Organisationen, einschließlich der DAF, bauten Stände / Infozelte an den etwas offeneren Ecken auf. Im Zentrum des Parks gab es einen Springbrunnen und eine Bühne für Musik und Diskussionen/Erklärungen.

Die untere, südöstliche Ecke bestand aus etwas größeren Servicezelten, wie der Krankenstation und der Küche, in der kostenloses Essen angeboten wurde. Überall verstreut gab es Tische mit Flaschen voll von Anti-Tränengasmitteln. Einige kommerzielle Straßenverkäufer boten Essen an, rüsteten die Leute mit Helmen aus, mit Gasmasken und Schwimmbrillen.

An den frühen Abenden hatte diese ganze Szenerie etwas Festival ähnliches, wenn Hunderte durch den Park schlenderten. Da meine erste Erfahrung mit einem großen Tränengasangriff eine Massenpanik ähnliche Situation war, hatte ich doch etwas angespannte Nerven in meiner Zeit im Park. Ich stellte mir die Panik vor, wenn es in der belebten Enge zwischen all den Zelten zu einem solch massiven Tränengasangriff kommen sollte.

So weit ich das beurteilen kann, bekamen die Aktionen im Gezi Park kein vergleichbares mediales internationales Interesse geschenkt, wie die Repressionen und Auseinandersetzungen auf dem Taksim. Dies ist auch nicht weiter verwunderlich, da Bilder von in Zelten sitzenden Menschen nicht den gleichen dramatischen Effekt haben, wie Menschen in Wolken von Tränengas oder wenn ihnen die Wasserwerfer die Beine wegziehen.

Der Park ist relativ groß, ungefähr ein Viertel bis Drittel des Taksim. Wenn er dochmal im Fernsehen auftauchte, dann mit der Barrikade aus ausgebrannten Autos am Eingang hin zum Platz.

An intersectional practise ?

Durch den gemeinsamen Akt der Besetzung und der Notwendigkeit, sich kollektiv gegen die staatlichen Angriffe, in Form von Tränengas und Wasserwerfern, zu verteidigen, war Gezi Park in vielerlei Hinsicht praktische Intersektionalität. Die Breite von Organisationen, welche mit Ständen und Zelten vertreten waren, war unbeschreiblich. Die Linke, verschiedene Nationalisten, Feministinnen, LGBT Gruppen und Umweltschützer, alle hatten sie ihre Transparente und Plakate. Auffallend viele individuelle Zelte trugen das anarchistische A im Kreis. Es gab sehr viele anarchistische Transparente, genauso wie einen großen Stand am Eingang zum Plaz, direkt hinter den Barrikaden auf dem Taksim. Es gab einen internen Konflikt zwischen der kurdischen Linken und rechtsnationalistischen Kemalisten. Bezogen auf ihre Standpunkte und ihre blutige Vergangenheit, wurde dieser aber relativ milde ausgetragen.

Ich kann die Arbeitsmethoden der Taksim Solidarity Plattform (die Dachorganisation der Besetzung) nicht wirklich beschreiben, als die Rückmeldung vom Treffen mit Erdogan diskutiert wurde. Einen Tag vor der gewaltsamen Räumung saß in in einer Versammlung mit 40 Leuten, in der das weitere Vorgehen diskutiert wurde. Die Methoden und Dynamiken waren vergleichbar mit denen der Occupy Assemblies überall sonst, ohne sichtbare Hierarchien unter den Sprechern. Der Diskussionspunkt war, ob die Besetzung aufgegeben werden sollte oder nicht. Einige zur Sprache gekommenen Positionen:

  • Der Park läuft Gefahr, von der Bevölkerung isoliert zu werden. Was durch die weitere Besetzung erreicht werden kann, ist stark begrenzt.
  • Egal was es kostet, der Weltöffentlichkeit sollte ein Beispiel in direkter Demokratie gegeben werden.
  • Die radikalen Gewerkschaften schlagen vor, alle Zelte abzubauen, mit Ausnahme eines symbolischen, zentralen Zeltes.
  • Es sollte sich genug Zeit für eine fundierte Entscheidung genommen werden. Mit einer Diskussion über die nächsten drei Tage.

Ich ging, bevor die Versammlung zu einer Entscheidung kam. Am nächsten Tag tauchten verstörende Berichte auf. Es schien, dass die Entscheidung nur große, symbolische Zelte im Park zu belassen angenommen wurde. Aber niemand wurde zum Abbruch aufgefordert. Das heißt, die großen politischen Zelte verschwanden, aber viele der individuellen blieben. An diesem Abend begann die Polizei ihren Großangriff gegen den Park. Mit Tränengas und Wasserwerfer, gefolgt von APC’s drang sie in den Park ein und machten alles, was noch zurüchgeblieben war, dem Erdboden gleich. Leute, die aus dem Park flüchteten, wurden genauso wie diejenigen, welche sich zum Protest versammelten, in den umliegenden Straßen mit Tränengas verfolgt. Andere, welche sich ins Davan Hotel flüchteten, saßen für Stunden fest als die Polizei als sich die Polizei Einlass verschaffen wollte. Tränengas wurde in die Lobby geschossen, während die Menschen dort im Gebäude festsaßen. Es gab die ganze Nacht hindurch Versuche zum Park vorzudringen, während die Polizei die umliegenden Straßen unter ständigem Tränengasbeschuß hielt. Wirklich bizarr war das Bild, als gleichzeitig Stadtangestellte in dem nun geräumten Park anfingen Blumen zu pflanzen. Eine eigentümlich PR-Aktion, aber vielleicht würde sich dadurch ja doch noch irgend ein Idiot von den Bildern mit Tränengas und den Wasserwerfern ablenken lassen.

The Final? Repression of Gezi

Die Medien beschrieben die 36 Stunden nach der Räumung, in denen Istanbul in einer Wolke aus Tränengas verschwand, als Riot. Ich bin mir nicht sicher, ob dies die richtige Beschreibung der Situation war. Ich nahm nur sehr vereinzelt offensive Aktionen (z.B. Steinwürfe) gegen die Polizei und Sachbeschädigungen war. Stattdessen griff die Polizei jede Gruppe in der Stadt an, welche versucht, sich zu einer Demo zu formieren, oder sobald sich Leute Richtung Taksim in Bewegung setzten. Wo immer eine Versammlung gelang, wurden mächtige Barrikaden gebaut. Es gibt eine Menge Baustellen im Zentrum Istanbuls und mittlerweile waren Demonstranten geübt darin, zu Dutzenden Baumaterial, und alles was sonst noch verfügbar war, über lange Ketten von Hand zu Hand an die richtigen Orte in den Straßen weiter zu reichen. Auf diese Art entstanden sehr massive Barrikaden, welch vor der Verfolgung von Polizeifahrzeugen Schutz boten.

Noch während das Treffen mit Erdogan lief, wurden riesige Mengen an Polizeikräften um den Taksim herum stationiert. Das hatte zur Folge, dass die Barrikaden im großen Abstand zum Taksim errichtet wurden. Selbst an der Galatia-Brücke, wo die Straßenbahn ihren Verkehr einstellen musste, vielleicht 1,5 Km vom Taksim entfernt. Ebenfalls konnten im Tourismusviertel am Goldenen Horn regelmäßige Tränengassalven gehört werden. Zwischenzeitlich kamen ähnliche Berichte aus den entfernten Vororten auf, wo sich eine riesige Anzahl an Menschen die Straßen nahm, diese besetzte und mit Tränengas und Wasserwerfern angegriffen wurde.

Etwas früher an diesem Tag, griff die Polizei in Ankara die Beerdigung eines bei den Protesten Getöteten mit Tränengas und Wasserwerfern an.

Ein Foto machte die Runde, auf welchem der Sarg in dichtes Tränengas gehüllt war, während ein Wasserstrahl das Gas in Nähe der Sargträger teilt. Es gab über 400 Festnahmen. Viele von ihnen wurden über 24 Stunden oder länger an unbekannten Orten festgehalten, bis sie in das normale Arrestverfahren überführt wurden.

Diese unglaubliche Repression verhinderte kurzfristig die Wiederbesetzung des Parks, schaffte es aber nicht die Bewegung zu zerschlagen. Fünf kleinere Gewerkschaften riefen einen „Generalstreik“ aus. Öffentlicher Protest wurde mit den ultra-pazifistischen „Standing Man“ Aktionen sichtbar, bei dem Leute einfach buchstäblich einfach nur schweigend auf dem Taksim oder woanders herumstanden. Diese Taktik ging dann schnell über den Taksim hinaus, griff andere Themen auf wie die Erinnerung an Hrant Dink, einen armenischen Journalisten, welcher 2007 ermordet wurde, oder an die fünf Arbeiter, welche durch fehlenden Arbeitsschutz letzte Woche an einer Methanvergiftung in einem Recyclinghof starben.

Die Polizei begann, die „Standing Man“ Proteste mit Arresten zu verhindern, was nur dazu führte, dass sich immer mehr Menschen daran beteiligten. Bizarrerweise versuchte die Regierung zu verbieten, dass länger als 8 Minuten Stillstehen der Gesundheit schadet, als ob dadurch die Verhaftungen gerechtfertigt wären.

The Assembly Process Spreads

Am wichtigsten zu betonen ist, dass überall in der Stadt im öffentlichen Raum Assemblies begannen, die größten mit mehreren tausend Leuten. Während ich diese Zeilen niederschreibe, wird von 35 Nachbarschaftsforen in 35 Parks in Istanbul berichtet. Eine davon wurde folgendermaßen beschrieben:

Ab 21 Uhr trafen sich tausende, vor allem junge Leute, zu einer Versammlung um das Amphitheater im Abbasaga Park unter dem Motto ‘Jeder Park ist Gezi’ … um zu verdeutlichen, was mit der Besetzung des Gezi Park begann, und wohin sich die Bewegung entwickelt. Hunderte standen an der Bühne an, um für jeweils zwei oder drei Minuten zu sprechen, während die Versammelten ihre Zustimmung oder Ablehnung durch Handwedeln oder Armeverschränken mitteilte.“

Wie bei der Occupybewegung liegt die Radikalität der Bewegung nicht in ihren Forderungen, sondern in ihrem Prozess. Obwohl die brutale Repression des Staates die Bewegung (durch die Taksim Platform repräsentiert) scheinbar radikalisierte, bleiben ihre momentanen Forderungen doch eher moderat. Genau wie M15 in Spanien, lässt sich die Bewegung nicht darauf ein, Erdogan’s Begründung ‘wir sind eine demokratisch gewählte Regierung’, als Grund für ein Ende der Proteste anzuerkennen. Gelegentlich wird eine Sprache verwendet, die nahelegt, dass die Regierung in ‘Wirklichkeit’ eine Diktatur ist: Im Gezi Park gab es eine Reihe von Plakaten, die Erdogan als Hitler darstellten. Solche Vergleiche sollen auf eine tiefere Wahrheit hindeuten,. nämlich auf die Ablehnung der parlamentarischer Demokratie. Ein anderer Aspekt der dies verdeutlicht, ist die sehr geringe Identifizierung mit politischen Parteien, die o.g. Biligiumfage berichtet, dass ‘nur 15,3 Prozent sich einer Partei zugehörig fühlen’ – Diese Zahlen sind den Erhebungen während der Massenproteste in Brasilien sehr ähnlich.

Für Anarchisten kann die massive Ablehnung des parlamentarischen Systems und der Ersatz durch direkte Demokratie nichts anderes als Begeisterung auslösen. Ein Großteil der Linken ist erschrocken und besteht darauf, dass sich die Protestierenden hin zur ‘Realpolitik’ bewegen sollen. Weil viele von ihnen junge Leute sind, gibt es häufig die paternalistische Sichtweise ‘Auch sie werden noch erwachsen um dies zu verstehen’, was natürlich nur ein völliges Nichtverstehen offenbart, darüber, dass dies Ablehnung mehr aus den historischen Fehlschlägen der linken Parteien resultiert, als aus irgend etwas sonst. Das Konzept der Parteigründung ist in der Türkei nicht wirklich neu. Es gab und gibt es in beträchtlichem Ausmaß in der revolutionären Linken. Kurz gesagt, es sind nicht die Protestierenden, welche Unterricht über Parteien brauchen, es sind diese Kommentatoren, welche in ihren altertümlichen Gewissheiten gefangen sind. Es bildet sich eine neue Form des Kampfes für soziale Transformation heraus, und wir sollten es drüber hinaus als ein wiederkehren von 1848 oder der Pariser Commune sehen, hin zu einer unausweichlichen Transformation für Soziale Demokratie.

Andererseits haben diese Bewegungen bisher noch keinen Weg zur sozialen Transformation herausgebildet. Die Assemblies mögen die Vorboten einer neuen Welt darstellen, welche in der alten entsteht, aber bislang gibt es noch kein kollektives Programm, welches den repressiven Staat überwindet und ihn ersetzt. Vielleicht am interessantesten ist, dass sich sie Form der Assemblies nur im öffentlichen Raum und in den Nachbarschaften entwickelte, obwohl viele Gewerkschaften ernsthaft Gezi und ähnliche Bewegungen mit ihren Mobilisierungen unterstützt haben. Wir können sicherlich davon ausgehen, dass die Zustimmung der CEO’s zu den Protesten fallen wird, wenn (und das hoffen wir von ganzem Herzen) Arbeiter ihre Assemblies errichten um die Zukunft der Betriebe in den sie Arbeiten zu diskutieren. Es wird sicherlich nicht so lange dauern, bis konkrete ökonomische Maßnahmen formuliert werden können, nicht so sehr als abstrakte Formeln, eher als eine konkrete anwendbare Praxis. Wir haben so etwas in der Vergangenheit durchaus schon beobachten können: Die Zeit der Fabrikbesetzungen in der argentinischen Krise von 2011. Doch das waren eher defensive Maßnahmen um Fabrikschließungen und den Verlust der Existenzgrundlage zu verhindern.

In der Türkei, mit seiner wachsenden Wirtschaft, wird sich eine Bewegung der Betriebsversammlungen nicht unbedingt als eine defensive, zur Bewahrung des Lebensstandards, entwickeln.

Anarchisten sollten größere Fortschritte machen, sich selbst in den Realitäten dieser neuen Bewegungen zu verorten. Dies bedeutet, über die Kritik hinweg zu kommen, dass sie nicht die Formen annehmen, die wir gerne hätten. Anarchisten haben eine lang und gut erarbeitete Theorie und Praxis der direkten Demokratie. Wir sollten darüber nachdenken, dies als Werkzeug zur Verfügung zu stellen, damit das Rad nicht neu erfunden werden muss. Wir haben ein tiefes, kollektives Verständnis, wie Macht und Reichtum zusammenhängen. Können wir dies in die Bewegungen einbringen, es populär machen, ohne es auf die 99%-Phrasen zu verkürzen? Über Jahrzehnte haben anarchistische zusammen mit anderen Bewegungen (feministischen, antirassistischen, queeren …) ein Verständnis für das Ineinandergreifen verschiedener Unterdrückungsformen entwickelt. Das alles eröffnet die Möglichkeit, mit anderen ‘Bewegungen der Plätze’, einen wirklichen Weg zur Befreiung der Menschheit zu entwickeln.

Während ich hier die letzten Zeilen schreibe, breiten sich die Assemblies über die ganze Türkei aus. Enorme Demonstrationen erschüttern Brasilien. Wir beobachten neue Momente in einem Kampfzyklus, welcher 2010 in Tunesien begann und sich heute im dritten Jahr befindet. Bis jetzt blieb der schnelle Sieg aus, obwohl doch einige Siege zu verzeichnen sind. Aber offensichtlich befinden wir uns in einem weltweiten Lernprozess, welcher eine neue revolutionäre Politik hervorbringt. Es besteht die Hoffnung, unser Ziel – die Befreiung Aller – zu erreichen, was mit unseren Methoden im 20sten Jahrhundert fehlgeschlagen ist. Die entscheidende Frage für Anarchisten ist: Wie können wir diese Bewegungen am besten unterstützen und beeinflussen, unter Berücksichtigung der harten Niederlagen, und ohne überheblich die Erfolge der Vergangenheit hausieren zu gehen? Wir sollten eher die Hebammen dieser neuen Situation sein, als die Archivare des Alten.

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1 Response

  1. 04/11/2013

    […] kurzer Bericht von Frauen, Lesben, Trans*, Ausschnitte aus einer anarchistische Analyse zu Gezi sowie passender Musik verschaffen den werten HörerInnen einen Einblick in die aktuelle […]