Verhaftungen in Frankreich – Selber Terror!

Dies ist die überarbeitete und aktualisierte Version eines Textes von uns, welcher im stressfaktor (monatliches Heft mit Terminen von selbstorganisierten Veranstaltungen in Berlin) vom Januar 2009 erschienen ist.

ABC Berlin

Am 11. November 2008 führte die französische Polizei eine der größten Razzien der letzten Jahre in Frankreich durch. Dabei durchsuchte sie mehrere Gebäude und Wohnungen in Paris, Rouen, Limoges, Metz und Tarnac. Zehn Personen wurden verhaftet, eine Person – die Mutter einer Beschuldigten – wurde nach drei Tagen ohne Anzeige wieder freigelassen. Die übrigen neun werden inzwischen beschuldigt Mitglieder einer terroristischen Vereinigung zu sein, fünf von ihnen wird zusätzlich „gemeinschaftliche Sachbeschädigung mit terroristischem Ziel“ vorgeworfen.
Die Ermittler_innen beziehen sich hierbei auf Sabotageaktionen mit Hakenkrallen auf das Hochgeschwindigkeitszugnetz der SNCF im Vorfeld des Castortransportes im November 2008. Wie der Presse zu entnehmen war gab es in Frankreich und Deutschland koordinierte Sabotageaktionen gegen den Castortransport und die Bahn aufgrund ihrer tragenden Rolle als Transport(netz)anbieterin, wozu nun auch eine gemeinsame Erklärung aufgetaucht ist. Angesichts des massiven öffentlichen Drucks mussten vier der Beschuldigten aus Mangel an Beweisen jedoch „freigelassen“ werden und befinden sich seitdem unter richterlicher Aufsicht. Am 3. Dezember folgten ihnen zumindest drei weitere Beschuldigte nach einer Verhandlung vor dem Appellationsgericht.
Somit befinden sich noch zwei Leute im Knast. Einer davon, Julien, wird als „Anführer einer terroristischen Zelle“ bezeichnet – ihm drohen somit bis zu 20 Jahre Haft, den anderen bis zu 10 Jahre.
Hinweise auf die verdächtige Gruppe wurden vom FBI gegeben, nachdem zwei der Genoss_innen die Aufmerksamkeit der dortigen Behörde auf sich zogen als sie sich in Amerika an politischen Protesten beteiligten. Dem folgte eine umfangreiche Überwachung ab Frühling letzten Jahres. Wir fragen uns diesbezüglich nur nebenbei, wieso den Ermittlungsbehörden, nachdem sie so viel an uns herumgeforscht haben, noch nicht klar ist, dass Anarchist_innen keiner/keinem Chef_in folgen? Die Verhaftungen sind Teil einer großen Kampagne, die in Frankreich gegen die sog. „Anarcho-Autonomen” seit mindestens einem Jahr stattfindet: Anfang 2008 wurden mehrere Genoss_innen aufgrund lächerlicher Vorwürfe eingeknastet und es gab einen großen Aufschrei seitens des repressiven Apparats um die gefährlichen „Anarcho-Autonomen” als neue terroristische Gefahr aus dem „Inneren“ zu diffamieren und dies neben dem immer präsenten „islamistischen Terrorismus”. Somit soll auch dieses neue Konstrukt die Anwendung weiterer repressiver Gesetze rechtfertigen. Wir möchten hier auch daran erinnern, dass Bruno, der sich damals unter strenger richterlicher Aufsicht befand, seit mehreren Monaten auf der Flucht ist. (Seine Briefe wie auch Beiträge über die Repressionswelle in Frankreich findet ihr in älteren Ausgaben der Entfesselt.) Dort wie auch hier in Deutschland werden Leute, die es als notwendig erachten, sich gegen die alltäglichen Ungerechtigkeiten zur Wehr zu setzen und die Umstände hierfür anzugreifen auf verschiedene Art und Weise als Terrorist_innen diskreditiert, um die immer abgestumpftere öffentliche Meinung zu beeinflussen und uns alle als Gefahr für die gesamte Bevölkerung darzustellen.
Uns ist die Dringlichkeit dabei klar, Gegenöffentlichkeit hierfür schaffen zu müssen um den staatlichen/ manipulativen Diskurs zu kippen. Denn wie schon oft gesagt: Die wahren Terrorist_innen sitzen in Justizgebäuden, Polizeiwachen, Regierungen und ähnlichen Einrichtungen. Es handelt sich keines Falls um die gesamte Bevölkerung, die von Widerstandsaktionen getroffen wird, sondern diejenigen, die diese kapitalistische Gesellschaft vorantreiben und die Infrastruktur, die sie dafür geschaffen haben. Presse und Polizei sprechen von engen Verbindungen zwischen Französ_innen und anderen Genoss_innen in Europa, vor allem in Deutschland. Was die Behörden als die Entdeckung des Feuers darstellen, sehen wir als ewigen Bestandteil autonomer und anarchistischer Bewegung. Es ist kein Geheimnis, dass wir keine Grenzen anerkennen und unsere Freundschaften, Affinitäten und Lieben keinen staatlichen Grenzen unterziehen, denn schon vor dem sog. Globalisierungsprozess wussten wir, dass unsere Bewegung eine internationale/antinationale ist und dabei unser Kampf gegen das System der gleiche ist. Freundschaften und Affinitäten zu kriminalisieren wurde schon vor Jahren in Italien durch das Konstrukt des „mediterranen Dreiecks” (Italien, Spanien und Griechenland) erprobt. In Italien und Spanien gab es schwere Schläge gegen die dortige anarchistische Bewegung, die immer noch andauern. Ein solches Konstrukt wird nun auch in andere Länder exportiert: Frankreich und Deutschland als nächste Kandidat_innen?
Deshalb fordern wir alle auf, auch dementsprechend zu handeln um unsere uneingeschränkte Solidarität mit den französischen Genoss_innen zu zeigen.

Genauso für all jene, die sich gegen Staat und Kapital tagtäglich zur Wehr setzen. Und damit meinen wir nicht nur die, die von dem letzten Repressionsschlag betroffen wurden, sondern alle. Denn, wie auch in dem Text aus „Cette Semaine“ beschrieben wurde (in dieser Entfesselt zu finden), sind wir nicht glücklich darüber, dass die Kampagne ihre Aufmerksamkeit nur den „Tarnac 9” schenkt: denn andere Genoss_innen und Rebell_innen werden von ähnlichen Maßnahmen stark getroffen, bei den Stellungnahmen der Soligruppen aber fast komplett ignoriert. Wir dürfen sie nicht vergessen, wenn wir jetzt unsere Solidarität organisieren. Wir dürfen auch nicht wirklich vergessen, dass wir als Anarchist_innen manchmal etwas konsequenter sein sollten: mensch kann nicht erst das Medienspektakel beschimpfen, um dann mit ihnen zu kooperieren, wenn mensch sie „braucht”….
Wir möchten auch keine „netten” Bilder von uns verkaufen, um die Öffentlichkeit zu berühren, dass wir doch nur „normale” Menschen seien und dadurch der Risiko eingehen, eine Distanzierung von denjenigen, die an diesem Diskurs nicht teilnehmen wollen, zu schaffen. Selbstverständlich sind wir „normal” in dem Sinne, dass wir wie jede Person, die etwas Salz und Wut im Kopf hat, unserer Unzufriedenheit mit dem System Ausdruck verleihen. Diese „Normalität” wird aber mehr und mehr als „abnormal” beschrieben. Wir dürfen uns nicht auf das Niveau derjenigen, die wir bekämpfen, herablassen. Wir sind Arbeiter_innen, Student_innen, Subversive, Unzufriedene, Kriminelle, Arbeitslose, Ausgebeutete, Bäuer_innen, Aufständische und vieles mehr. Wir passen auf keinen Fall in die Kategorien rein, die uns Medien und Staat aufdrücken wollen.
Und wir dürfen uns von ihrer Taktik der Spaltung und staatlicher Repression nicht einschüchtern lassen: sich zur Wehr setzen gegen den alltäglichen Mist braucht in unseren Augen keine Rechtfertigung. Außerdem ist uns egal, ob unsere Genoss_innen (und allen anderen) „unschuldig“ oder „schuldig“ sind, denn wenn die ersten unsere Solidarität brauchen und verdienen, dann die zweiten um so mehr!

Hier gibt es mehr Infos rund um die Verhaftungen in Frankreich:
www.tarnac9.noblogs.org (deutsch)
www.tarnac9.wordpress.com (englisch)
www.abc-berlin.net

Schreibt Julien und Yldun, die im Knast sitzen, schafft Momente der Solidarität für alle…..

Yildune Levy N° 369 772
Maison d’arret des femmes
6, avenue des Peupliers
F-91700 Fleury Mérogis
France

Julien Coupat
N° d‘écrou 290173
42 rue de la santé
75014 Paris
France

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